Radiosendung "Politische Literatur"

Von Hans G Helms 01.07.2002

Susanne Willems: Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau. Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte. Haus der Wannseekonferenz, Band 10
Edition Hentrich. Berlin 2002, 480 S., Euro 19,95

Mehr als 50.500 Berliner Juden wurden ab Mitte Oktober 1941 in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert; von dort gelang es nur wenigen, dem Mord zu entkommen. Die Verelendung der Wohnverhältnisse der Juden und deren Konzentration oder Gettoisierung - in Häusern, Wohnungen oder Barackenlagern - war eine Etappe auf dem Weg zur Deportation. Im Protokoll der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 wurden die Deportationen deutscher und tschechischer Juden, die seit drei Monaten stattfanden, als vorrangig eingestuft, und zwar 'allein schon aus Gründen der Wohnungsfrage und sonstigen sozial-politischen Notwendigkeiten’.



Diesen Befund liest man in dem Band "Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau", den Susanne Willems in der Berliner Edition Hentrich herausgebracht hat.

Jahre penibelster Prüfung der Registraturen des Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt, der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, des Oberfinanzpräsidenten Berlin und Akten anderer Ämter stecken in dieser eminenten Arbeit. Die Koordination der dort aufgefundenen Daten entlarvt Albert Speer als Lügner und deckt auf, wie eine NS-Behörde aus sogenannten "Sachzwängen" gegen Juden operiert hat, ohne auf die antisemitische Propaganda Rekurs zu nehmen. Juden zu depravieren, sie ihrer Wohnungen zu berauben, sie zu ghettoisieren und deportieren zu lassen, war für die Schreibtischtäter der Generalbauinspektion auf allen Ebenen ganz selbstverständlich.

Das Amt eines Generalbauinspektors für die Reichshauptstadt schuf Hitler Anfang 1937, um dem Architekten Albert Speer die Möglichkeit zu geben, die Stadtmodernisierung als 'neuen Gesamtbauplan’ mit allen Mitteln staatlicher Gewalt durchzusetzen.

Halb Berlin bestimmte Speer zu 109 Räumungs- oder Abrissbereichen für die Neugestaltung. Doch das Unternehmen scheiterte bereits 1938, weil der rückläufige Berliner Wohnungsbau nicht einmal einen Bruchteil der benötigten Ersatzwohnungen für die aus den Abrissbereichen Auszuquartierenden zur Verfügung stellen konnte; denn Baumaterialien und Bauarbeiter wurden von der Aufrüstung aufgesogen. Susanne Willems urteilt:

Weder die Neugestaltungsbehörde noch die städtischen Ämter brachten ihre Planungen in Einklang mit den realen Verhältnissen. In ihrer Gesamtheit sind die Planzahlen (...) nur als Indizien für groben Dilettantismus und äußerste Verantwortungslosigkeit zu lesen. Sie missachteten die materiellen Bedingungen, um die Speer so teure Fiktion künstlich aufrechtzuerhalten, die Neugestaltung wäre zu verwirklichen.


Die Umsetzung Wohlhabender aus den Räumungsbereichen Tiergarten und Neuer Westen in Großwohnungen blockierte den Abriss total.

Um den Einstieg in den (...) Umbau Berlins zu erzwingen, strebte Speer an, sich Ersatzwohnungen aus dem Bestand an bewohnten Wohnungen zu verschaffen. (...) Um einen zweiten Wohnungsmarkt zu separieren, zog Speer im September 1938 eine rassistische Trennlinie und ließ seither die Vorbereitung seines gescheiterten Projekts auf Kosten der Berliner Juden betreiben - mit aller Gewalt.

Zur Unterbringung der "entsiedelten Juden" erfand er das unrealisierbare Projekt "Judensiedlung". Bevorzugte Wohngebiete dekretierte er zu "judenreinen Gebieten". Dank der Flucht Tausender Juden nach der Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 fielen Speer Hunderte Wohnungen Berliner Juden in die Hände. Da sie aber seinen unersättlichen Bedarf nicht deckten, beauftragte er sich wiederum selbst, ...


...indem er Anfang 1939 eine "durch kein Gesetz gedeckte Anzeigepflicht des Hauseigentümers (verfügte), der Juden vertraglich Räume überlassen hatte.


Der Kriegsbeginn versperrte Juden die Flucht. Die Generalbauinspektion pferchte die von ihr widerrechtlich kündigungslos exmittierten Juden im "dritten Wohnungsmarkt", im "Schachtelraum", in Wohnungen anderer Juden zusammen. 1940 ließ sich Speer mit einem selbstverfassten Brief von Hitler ermächtigen, die Vorbereitungen zum Umbau Berlins während des Kriegs fortzusetzen. Nach seiner Vorstellung sollten die Wohnungen von Juden im ersten Nachkriegsjahr die Abrissmieter aufnehmen, so dass er mit der Neugestaltung sofort würde beginnen können. Da der "Schachtelraum" bis zum Bersten überfüllt war, verhandelten Speers Vertreter mit denen von Goebbels und Heydrich, um Hitlers Einwilligung zur Deportation zu bekommen. Um den Druck zu erhöhen, beauftragte sich Speer 1941 ein weiteres Mal selbst zu mehreren Wohnungsräumaktionen gegen Juden. Mit seiner "III. Aktion" griff er der Deportationserlaubnis vor.


Der Generalbauinspektor übergab die Listen (der zu räumenden Wohnungen) der Berliner Stapoleitstelle, die die Erfassung zur Deportation mit der personenbezogenen Vermögenseinziehung fortsetzte. Die Berliner Gestapo zwang die Wohnungsberatungsstelle der Jüdischen Kultusvereinigung zur Mitwirkung, um alle Bewohner dieser Wohnungen und deren Vermögen zu erfassen. Am Ende des mehrwöchigen Erfassungsverfahrens vergab die Stapoleitstelle Transportnummern. Ab dem 18. Oktober 1941 wurden die exmittierten Juden nach Transportlisten zu je tausend aus Berlin deportiert.


Die im Buch reproduzierten Dokumente der letzten Instanz, des Oberfinanzpräsidenten, belegen den Auftragsweg: Speers Kündigungsnummer folgt die Transportnummer der Gestapo und das Aktenzeichen des Oberfinanzpräsidenten. Daraus geht eindeutig hervor: Speer war der Initiator der "Aktionen" und "Großaktionen" zur Exmittierung der Juden und Auftraggeber der Gestapo, die nach seinen Listen und Karteien die Wohnungen zu räumen und die Bewohner zu deportieren hatte, insgesamt 50.500 Berliner Juden, wie die "Zeittafel der Neugestaltungsräumungen 1941 - 1943" nachweist. Aus ihrer Untersuchung zieht Susanne Willems das Fazit:


Die in jeder erdenklichen Hinsicht Recht brechenden Räumungs- und Kündigungsanordnungen gegen Berliner Juden setzte Speers Behörde mittels eines Verfahrens durch, das den Rechtsbruch zu verdecken und möglichst die offene Anwendung des - nie verzichtbaren und stets abrufbaren - staatspolizeilichen Zwangs zu vermeiden hatte. In Berlin missbrauchte zuerst die Speersche Behörde Anfang 1941 die Wohnungsberatungsstelle der Jüdischen Kultusvereinigung (...) als Werkzeug der wohnungsmarktpolitischen Willkür gegen Berliner Juden. Ab Oktober 1941 erfüllte die Berliner Staatspolizeileitstelle als verlängerter Arm des Generalbauinspektors den Räumauftrag Speers. Die Berliner Gestapo beteiligte nun ihrerseits die Jüdische Kultusvereinigung an den bürokratischen Deportationsvorbereitungen. Die Selbsthilfe der Jüdischen Kultusvereinigung fungierte stets als Mittler der terroristischen Gewalt gegen die Berliner Juden, schirmte Speers Behörde als Urheber ihrer Verelendung ab und enthob die Neugestaltungsbürokraten der Konfrontation mit den Opfern der Speerschen Wohnungsmarktpolitik, die sie umsetzten.

Eine Rezension von Hans G. Helms. Susanne Willems ist die Autorin von "Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau.". Diese Untersuchung ist in der Berliner Edition Hentrich erschienen und zwar als Band 10 der Reihe "Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz." 480 Seiten, 19 Euro 95.

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