Hauptstadtbau

Susanne Willems überführt Albert Speer als Hauptverantwortlichen für die Deportation der Berliner Juden

Von Hans G Helms 02.07.2002

In seinen »Spandauer Tagebüchern« beklagt Albert Speer das Malheur, nach dem Absturz Fritz Todts von Hitler zu dessen Nachfolger als Rüstungsminister ernannt worden zu sein, und behauptet: »Als Architekt Hitlers wäre mir nach einem verlorenen Krieg nichts geschehen (...) Niemand hätte einen Architekten vor Gericht gestellt.« (S. 419) Dreist spinnt Speer sein dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal präsentiertes Lügenmärchen fort, das ihn vor dem Strang rettete, bloß ein unpolitischer Architekt gewesen zu sein. In ihrer Analyse des Generalbauinspektors für die Neugestaltung Berlins überführt Susanne Willems mit ihrer innovativen Forschungsmethode Speer als Hauptverantwortlichen für die Deportation der Berliner Juden. Das gelingt ihr kraft ihres Ansatzes, die Akten der Speerschen Stadtplanung und Bauvorhaben, die Judenverfolgung nicht vermuten lassen, methodisch auszuwerten und Verbindungslinien zu anderen Aktenbeständen herzustellen. Ihre Arbeit trägt den von einem Formular entliehenen Titel »Der entsiedelte Jude«. (S.18) Der Untertitel »Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau« umreißt das zentrale Aktionsfeld der Speerschen Sonderbehörde.

Um die Verfahrensweisen aufzudecken, mit denen der Generalbauinspektor sich bemüht, den Ausbau Berlins zur Weltmetropole »Germania« wider alle Hindernisse mit aller Gewalt durchzusetzen, stützt sich die Historikerin auf Materialien, die die Forschung bislang vernachlässigt hat: auf Behördenregistraturen. Mit diesen, argumentiert sie, »hat man zwar ein sehr sprödes Aktenmaterial, aber ein sehr umfangreiches. Für diese Forschungsarbeit habe ich neben den Akten des Generalbauinspektors solche der Reichsvereinigung der Juden verwendet und die Registraturen des Oberfinanzpräsidenten Berlin zur Verwertung des Vermögens der Deportierten. Aus allen drei Aktengruppen ließen sich die Räumungsverfahren rekonstruieren.«

Trotz unübersehbarer Indizien für planvolle Judenverelendung untersucht Willems zunächst die materiellen Aspekte des gigantomanischen Bauvorhabens, als hätte es mit Judenverfolgung nichts zu tun. »Im Wege dieser Analyse bin ich darauf gestoßen, daß das Speersche Stadtumbauprojekt in einer Situation geplant wurde, wo weder am Wohnungsmarkt noch am Baumarkt die nötigen Ressourcen überhaupt vorhanden waren. Das war im Sommer 1938 für alle Akteure offensichtlich. Das steht in deren Beratungsprotokollen.«

Speers Neugestaltung ist gescheitert, ehe sie begonnen hat. Baumaterialien und -arbeiter werden von Aufrüstung und Westwallbau absorbiert. Der Wohnungsmarkt ist total ausgezehrt. Mietern aus Abrißbereichen der Neugestaltung Ersatzwohnungen anzubieten, ist unmöglich; folglich unterbleiben Abrisse für die geplanten Protzachsen. Da Speer und seine Kumpanei von Architekten, Modellbauern, Künstlern und Bauunternehmern verdienen wollen, sucht der Bauherr nach einem Ausweg. Indem er die Neugestaltung mit einer judenfeindlichen Politik verknüpft, findet er eine Scheinlösung: Was wir an Ersatzwohnungen nicht bauen können, holen wir uns von denen, die am leichtesten zu entrechten sind. Das war seit 1933 die jüdische Bevölkerung. Dann wird der Zugriff auf die Wohnungen von Juden geplant.

1938 plant Speer »das Projekt Judensiedlung«, ein Ghetto in Berlin-Buch, für das jedoch weder Gelder noch Ressourcen aufzutreiben sind. Da kommt ihm unabsichtlich Goebbels mit dem Pogrom am 9./10. November 1938 zu Hilfe. »Mit dem Novemberpogrom entscheiden Juden in Berlin zu Tausenden, aus diesem Deutschland rauszukommen. Als erstes ist es die Speersche Behörde, die sagt: Diese Wohnungen vermitteln wir an Abbruchmieter. Wo abgerissen wird, wo deshalb Leute Ersatzwohnraum brauchen, denen werden die Wohnungen der geflüchteten Juden zugewiesen.«

1939 teilt Speer den Berliner Wohnungsmarkt rassistisch auf: Der erste oder freie Wohnungsmarkt ist leergefegt; der zweite Wohnungsmarkt umfaßt alle Wohnungen von Juden; im dritten Wohnungsmarkt, dem winzigen »Schachtelraum«, werden exmittierte Juden vorübergehend eingepfercht. In den bevorzugten Wohnvierteln des Tiergartens und Westens legt Speer »judenreine Gebiete« fest. Zur Aneignung der Wohnungen und Immobilien von Juden bricht Speer permanent das Recht der ihm nicht ausreichenden antijüdischen Nazigesetze: Rechtswidrig läßt er Juden kündigungslos exmittieren, vermietet er ihre Wohnungen oft schon vor ihrem Zwangsauszug weiter. 1940 fordert er ein künftiges »Berlin ohne Juden«, um gleich nach Kriegsende Abrißmieter in Wohnungen von Juden einweisen und mit der Neugestaltung beginnen zu können. Das Andauern des Kriegs erschwert indessen die Übernahme der Wohnungen von Juden. Das veranlaßt Susanne Willems zu klären: »Wenn über 50000 Berliner Juden seit Herbst 1941 aus der Stadt deportiert wurden, wer entschied eigentlich, wer die ersten tausend waren?«

Wie ihre Analyse ergibt, ermächtigt sich Speer mit selbstverfaßten »Führer-Befehlen«, die er - falls erforderlich - von Hitler unterschreiben läßt, die Neugestaltung während des Kriegs fortzusetzen und Juden widerrechtlich in die Wohnungslosigkeit zu treiben. Unterstützt von Heydrich und Goebbels verschafft er sich Hitlers Einwilligung zur Deportation der Berliner Juden. Susanne Willems dokumentiert lückenlos, »daß das, was in der Speerschen Behörde bereits die dritte Wohnungsräumaktion hieß, im August 1941 vollständig vorbereitet war, 5000 Wohnungskündigungen umfaßte und damit mehr als zehn Massendeportationen aus Berlin. Das hieß, als die Speersche Behörde den Auftrag an die Gestapo weiterreichte, daß zu diesem Zeitpunkt weder die Gestapo noch das Reichssicherheitshauptamt eine genaue Vorstellung davon hatten, wohin diese durch die Speerschen Kündigungsanordnungen wohnungslos werdenden Berliner Juden deportiert werden sollten.«

Eine »Zeittafel der Neugestaltungsräumungen 1941-1943« (S.374) belegt den Zusammenhang zwischen Speers Räumungen der Wohnungen von Juden und deren Deportation ins Generalgouvernement, ins Baltikum, nach Warschau und Auschwitz und den sogenannten Alterstransporten nach Theresienstadt. Fast alle noch in Berlin lebenden Juden, rund 50000, fallen ihnen zum Opfer. Susanne Willems’ Arbeit erweitert die Faschismusforschung um eine höchst bedeutsame Erkenntnis: Nicht die Gestapo ist Initiator der Deportationen, vielmehr der Generalbauinspektor Albert Speer.

»Die Gestapo war der verlängerte Arm des Generalbauinspektors.« Speer liefert der Gestapo die Räumungslisten und Karteiauszüge der Wohnungen von Juden, nach denen sie zu räumen und zu deportieren hat. Die Historikerin beschreibt den gravierenden Unterschied zwischen den gängigen Annahmen und ihren Befunden: »Die Lesart ist bisher: Es handelt sich um einen Polizeistaat, und deshalb hat das ausführende Organ auch die politische Initiative. An dieser Forschung zu den Deportationen der Berliner Juden zeigt sich, daß die polizeiliche Behörde einen wirtschaftlich und politisch interessierten Auftraggeber hatte.«

Aus der Untersuchung lernt man ferner, wie Juden aus »bloßem Geschäftsantisemitismus«, aus vorgeblichen »Sachzwängen«, der Vermittlung von Wohnungen und Immobilien an bedürftige Abrißmieter, Behörden, Verbände, Konzerne, systematisch verelendet werden. Susanne Willems betont, »daß diejenigen, die in ihrer Verantwortlichkeit für ganze Behörden die Existenz anderer Menschen zerstören, gerade nicht erkennbar sind an dem menschenverachtenden Wort oder an der rassistischen Einstellung gegen die Bevölkerungsgruppe, deren Existenz sie zerstören. Gerade deshalb kommt es darauf an, die bürokratischen Systeme zu begreifen.«

Susanne Willems versäumt auch nicht, den perfiden Zusammenhang zwischen dem Umbau Berlins zur Bundeshauptstadt und den von Speer für die Neugestaltung geräumten Brachen darzustellen und mit einer Graphik zu verdeutlichen. (S. 444) »Das Ernüchternde des Hauptstadtbaus in Berlin, etwa des Regierungsviertels im Spreebogen, der Inszenierung von Kommerz und Kultur am Potsdamer Platz, ist zu wissen, daß ein Teil dieser Kosten für die Baufreiheit, die in den 90er Jahren in diesen Gegenden genutzt wurde, Berliner Juden mit ihrer Existenz in der Nazizeit bezahlt haben.«

Susanne Willems: Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau. Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz, hg. von Norbert Kampe, Wolfgang Scheffler und Gerhard Schoenberner, Band 10. Berlin, Edition Hentrich, Berlin 2002. 480 S., 19,95 Euro

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