Im Schachtelraum

Zwangsräumung. Wie Hitlers Bauminister Speer in Berlin "Judenwohnungen" auf Bestellung lieferte

Von Simone Barck 18.07.2003

Wer sich in Berlin in den Jahren 1941/1942 den Wunsch nach einer schönen großen Wohnung in bester Lage in Schöneberg, Zehlendorf, Steglitz, Charlottenburg, Tiergarten oder Wilmersdorf erfüllen wollte, konnte sich in einem behördlich gedruckten "Wohnungsnachweis" über das jeweils aktuelle Angebot informieren Ein Blick in dieses "Amtliche Organ des Generalbauinspektors (GBI) für die Reichshauptstadt" macht einen seit dem Novemberpogrom 1938 in Gang gesetzten systematischen Verdrängungs- und Verelendungsprozess der Juden einsehbar.

Der Urheber dieses spezifischen Aspekts der Judenverfolgung und -vernichtung war der Architekt Albert Speer, der seit 1937 von Hitler als GBI mit der gigantomanisch gedachten Neugestaltung Berlins beauftragt worden war. In dieser Funktion wusste sich Speer - nach Kriegsende während seiner 20-jährigen Haft und bis zu seinem Lebensende 1981 stets um seine Profilierung als "unpolitischer Architekt" bemüht - ein einzigartiges "Architektur-, Stadtplanungs- und Bauimperium" zu schaffen, vermittels dessen er eine einflussreiche Gruppe von Mit-Tätern und "willigen Vollstreckern" zu verbrecherischen Höchstleistungen anspornte. Seine beispiellose Machtfülle, durchgesetzt von einem weitverzweigten institutionellen Gefüge (bis 1942 ca. 1.400 Mitarbeiter) und bürokratischen Vernetzungen mit anderen staatlichen, NS- und kommunalen Einrichtungen und Apparaten, brachte ihm zwar unternehmerischen Erfolg und auch persönlichen Reichtum ein, konnte aber nicht über das Scheitern der projektierten Neugestaltung Berlins hinwegtäuschen, das vor allem ökonomische Gründe hatte. Als das krasse Missverhältnis, in dem die Planungsdaten der Neugestaltung zur Kapazität des Berliner Arbeits- und Baumarkts standen, als Desaster allzu offensichtlich zu werden drohte, erkor sich Speer das von Juden bewohnte Wohnungs-Segment (es handelte sich 1939 um circa 23.000 Wohnungen), um die "arischen" Räumungsmieter und andere private und gewerbliche Interessenten mit Wohnungen zu versorgen.

Mit der akribischen Rekonstruktion der in verbrecherischem Zusammenwirken von Architekten, Juristen und Kommunalbeamten geschaffenen drei Wohnungsmärkte, von denen der dritte, der sogenannte "Schachtelraum" meist die letzte Station vor Deportation und Vernichtung darstellte, erbringt die Bochumer Sozialhistorikerin Susanne Willems den unwiderlegbaren Beweis der initiatorischen und höchst aktivistischen Rolle Speers an diesem Mordgeschehen. Auf der Basis des von ihr aus verschiedenen Archiven (über 1.000 Fußnoten vermitteln einen Eindruck dieser Aktenfülle) in über zehn Jahren zusammengetragenen Materials kann die Autorin letzte Zweifel an dem kriminellen Zusammenspiel von Speers Interessen und Maßnahmen mit denen von Heydrich und Himmler sowie Goebbels ausräumen. Für die technokratischen und perfektionierten verwaltungstechnischen Qualitäten der totalitären Herrschaft, die in der von Speer seit 1943 als Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion verantworteten Massenausbeutung von osteuropäischen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen noch eine perverse Steigerung erfuhr, wird hier ein eindringlicher Nachweis erbracht.

Dabei erscheinen in Susanne Willems Analysen die Täter stets konkret (wie zum Beispiel Speers Stellvertreter, der Jurist und einstige Berliner Stadtkämmerer Karl Maria Hettlage oder der Reichsbankdirektor Karl Blessing und andere), in dem Personenregister werden zu den wichtigsten Personen und ihren Funktionen während des NS auch ihre erstaunlichen Karrieren in der BRD aufgelistet. Ebenso bleiben auch die Opfer und deren verschieden motivierte Helfer nicht anonym. Aus den "Räumungslisten", "Vermögenserklärungen", Deportationslisten der Gestapo und anderen Zeugnissen der gesetzwidrigen Enteignung der Juden von Wohnungen, Häusern und Grundstücken erschließen sich zahlreiche Schicksale, für die hier stellvertretend an das von Moritz Schwarzschild, an die der Familien Bendix und Grünewald erinnert sei. Die Notlage ausnutzend, boten sich Makler, kommunale sowie Gestapo-Beamte gegen Geld an, Zurückstellungen von Räumungsbefehlen und Deportationslisten zu beschaffen.

Ein besonders düsteres Kapitel stellte die erzwungene administrative Mithilfe der Jüdischen Kultusvereinigung und deren "Wohnungsberatungs- und Abwanderungsstelle" an den Räumungsaktionen dar, was die hier tätigen Mitarbeiter später in den unberechtigten Verdacht brachte, Berliner Juden durch die von ihnen erstellten Listen eigenhändig der Deportation ausgeliefert zu haben. Rettung vor der Deportation versprach in diesem ausgeklügeltem System nur das Verschwinden, das Untertauchen als sogenanntes U-Boot, wie es zum Beispiel von Ludwig Katz berichtet wird, der auf diese Weise überleben konnte. In den wiedergegebenen Faksimiles der diversen Fragebögen und Listen finden sich viele erschreckende Beispiele für Victor Klemperers LTI, hinter der sich das mörderische Tun nur höchst unvollkommen verstecken kann. So wird man nach der Lektüre dieses Buches kaum noch durch eine der Berliner Straßen gehen können, ohne an die "entsiedelten Juden" denken zu müssen.

Susanne Willems: Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau. Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, herausgegeben von Norbert Kampe, Wolfgang Scheffler und Gerhard Schoenberner, Edition Hentrich, Berlin 2002, 480 S. 19,80 EUR