Chronologie der Entscheidungssituationen

Entscheidungssituationen, in denen Albert Speer sich als Generalbauinspektor und als Rüstungsminister zum Interessenten, Initiator und Auftraggeber von Deportationen, KZ-Sklavenarbeit und Vernichtung machte

Februar bis Juli 1940

Speer läßt seine Berliner Generalbauinspektion alle Vorbereitungen treffen für die Wiederaufnahme der Neugestaltung ab August 1940, zunächst in der Erwartung eines baldigen Kriegsendes (Etatmittelsicherung im Februar, Bauausführungsplan von Mai, Räumungs- und Abrißplanung, Abstimmung des Verfahrens der Wohnungsräumungen gegen Juden im Juli, Perspektive polizeilicher Abschiebung unmittelbar nach Kriegsende)

29. September 1940

Speer erlangt Hitlers Zustimmung für einen Beginn der Räumungen in Abrißgebieten, indem er den Abbruch für die Dauer des Kriegs aussetzt und die Bereitstellung der Abrißhäuser für Ausgebombte behauptet (Speer-Dokumente). Da die Abschiebung der durch Umsetzung von Abrißmietern in Wohnungen von Juden Voraussetzung der Räumungen ist, macht sich Speer zum Interessenten an Massendeportationen Berliner Juden während des Kriegs.

9. November 1940

Speer hat Heydrich zugesagt, für die behördliche Wohnungsfürsorge des RSHA einen Teil der Beute an Wohnungen der zu deportierenden Juden zeitweise abzuzweigen (Abbildung); entgegen Speers Erwartung gelingt es Heydrich bis Januar 1941 nicht, Hitlers Zustimmung zu Deportationen aus Berlin zu erhalten.

25. Januar 1941

Speer hat sich Hitlers Einwilligung zum Beginn der Neugestaltungsräumungen nochmals bestätigen lassen, woraufhin sein Hauptamt II Verwaltung und Wirtschaft auf einer von Prof. Dr. Karl Maria Hettlage geleiteten Sitzung mit Vertretern des Bunds der Berliner Haus- und Grundbesitzervereine, der Gauleitung, des RSHA, des Polizeipräsidiums und der Schutzpolizei das Verfahren der als Interimslösung in Gang zu setzenden 1.000 Wohnungsräumungen gegen Berliner Juden abstimmt: I. Aktion der Wohnungsräumungen gegen Juden in Berlin.

20. März 1941

Nachdem es Speer gelungen ist, auch Goebbels einzuspannen, empfängt dessen Staatssekretär Gutterer Vertreter Speers und Heydrichs zur Beratung: "Das Ergebnis der Aussprache war, daß Pg. Eichmann gebeten wurde, für Gauleiter Dr. Goebbels einen Vorschlag zur Evakuierung der Juden aus Berlin auszuarbeiten." Goebbels ist der Überzeugung, berichtet sein Staatssekretär, "dass ein geeigneter Evakuierungsvorschlag sicher die Zustimmung des Führers finden werde".

Mai 1941

Speer läßt seine Neugestaltungsagentur weitere 1.000 Wohnungsräumungen gegen Berliner Juden starten. Wiederum als Interimslösung müssen die auf Anordnung der Speerschen Behörde kündigungslos zur Räumung gezwungenen Juden Quartier bei Freunden und Bekannten finden, andernfalls sie zwangsweise bei anderen Juden einquartiert werden: II. Aktion der Wohnungsräumungen gegen Juden in Berlin, laut Speer-Chronik die erste Großaktion.

August 1941

Speers Agentur bereitet ihre zweite Großaktion der Wohnungsräumungen vor und übergibt der Gestapo anhand der Speerschen Wohnungskarteien Kündigungsanordnungen des Generalbauinspektors Speer über 5.000 Wohnungen Berliner Juden. Die Erfassung der von Speer der Gestapo zur Deportation ausgelieferten Juden schließt die Gestapo mit der Ermittlung aller in diesen 5.000 Wohnungen lebenden Juden anhand der polizeilichen Melderegister im September ab. Nach Aufnahme der Vermögenserklärungen ordnet die Gestapo Transportnummern zu und fertigt zur Erfüllung des Speerschen Räumauftrags von dessen III. Aktion zwischen dem 18. Oktober 1941 und 25. Januar 1941 zehn Deportationstransporte nach Lodz, Minsk, Kowno und Riga mit mehr als 10.000 Opfern ab; im März und April 1942 folgen weitere 3 Abtransporte in den Distrikt Lublin und das Ghetto Warschau mit Opfern der Speerschen Kündigungsanordnungen von August 1941: III. Aktion, laut Speer-Chronik zweite Großaktion.

November 1941

Ende des Monats November hat Speer laut Speer-Chronik seine dritte Großaktion der Wohnungsräumungen gegen Berliner Juden veranlaßt. Es ist Speers letzter Deportationsauftrag, den die Gestapo anhand der Kündigungsanordnungen des Generalbauinspektors Speer über sämtliche etwa 10.000 bis 15.000 in Berlin noch von Juden bewohnten Wohnungen auszuführen hat.

Januar 1942

Der letzte Deportationsauftrag Speers von November 1941 wird durch die Weigerung von Berliner Rüstungsbetrieben, die von der Rüstungsinspektion im Wehrkreis III gestützt wird, auf die jüdischen Zwangsarbeiter zu verzichten, solange die Arbeitsämter keinen adäquaten Ersatz an Zwangsarbeitern stellen können, blockiert: der sogenannte, in Akten auch mit Transportschwierigkeiten begründete Deportationsstopp.

9. Februar 1942

Die Berliner Gestapo sucht in Verhandlungen mit den Berliner Rüstungsbetrieben einen Kompromiß, um trotz des Deportationsstopps den Räumauftrag Speers auszuführen. Weil "zwar die in den Betrieben eingesetzten Juden gemäß Verfügung des Wirtschaftsministers bis auf weiteres an ihren Arbeitsstellen bleiben" sollen, ist beabsichtigt, "sämtliche Wohnungen, in welchen sich noch Juden befinden, zu räumen, nicht arbeitseinsatzfähige Juden, wie Kinder, Greise und Gebrechliche, zu evakuieren, während die im Arbeitsprozeß befindlichen Familienangehörigen in geschlossenen Lagern untergebracht werden sollen". Die Gestapo schlägt Barackenlager auf Werksgelände oder in Betriebsnähe vor; die Vertreter der Rüstungsbetriebe halten es für vorteilhaft, "daß die arbeitende jüdische Bevölkerung in Ghettos zusammengefaßt würde", was die Gestapo zu prüfen verspricht.

11. März 1942

Die Berliner Gestapo teilt den Rüstungsbetrieben in einer weiteren Beratung mit, daß und welche Vorbereitungen für die Unterbringung der jüdischen Zwangsarbeiter in Baracken zu treffen sind, wenngleich Hitlers Zustimmung zur Trennung der Familien noch ausstehe: "Die nicht arbeitsfähigen Juden werden evakuiert, in nächster Zeit 8.600."Die Baracken stünden in Kürze zum Erwerb bereit "und können nach endgültiger Evakuierung der Juden, über deren Zeitpunkt keine Angaben gemacht werden konnte[n], beliebige Verwendung finden". Ersetzt würden die jüdischen Zwangsarbeiter "zu gegebener Zeit" durch deportierte Zwangsarbeiter aus dem Osten, möglicherweise Russen.

13. März 1942

Speer, seit 9. Februar 1942 als Reichsminister im Amt, erhebt sich zum Herrscher über das Los der jüdischer Rüstungsarbeiter, indem er Bormann die Gauleiter und über die DAF und sein Ministerium die Betriebe "Betr.: Einsatz von Juden in Rüstungsbetrieben" davon unterrichten läßt: "Die erheblichen Einziehungen von Rüstungsarbeitern zur Wehrmacht und die von der Rüstungswirtschaft geforderte Leistungssteigerung machen es bei der augenblicklichen Lage auf dem Arbeitseinsatzgebiet zur Zeit unmöglich, auf den Einsatz von Juden in der Rüstungswirtschaft zu verzichten." Die Leiter "von Rüstungsbetrieben, die weisungsgemäß noch Juden beschäftigen", sind einerseits "gegen Angriffe und den Verdacht der Judenfreundlichkeit in Schutz zu nehmen". Andererseits legt Speer die Regeln des Austauschs von Zwangsarbeitern fest, so daß der Einsatz von Juden in der Rüstungsproduktion in Berlin keine seiner noch ausstehenden Wohnungsräumungen behindern würde: "Der Reichsminister für Bewaffnung und Munition wird im übrigen, sobald die Arbeitseinsatzlage es gestattet, die Juden in Rüstungsbetrieben durch andere Arbeitskräfte ersetzen und dafür die Juden zum Abtransport freigeben."

Juni 1942

Die Gestapo nimmt zur Ausführung des letzten Räumauftrags Speers von November 1941 den Abtransport der Juden aus der Stadt wieder auf, sortiert in sogenannte Alterstransporte in das Ghetto Theresienstadt und in Osttransporte, darunter nach Riga und Reval. Soweit die Rüstungsbetriebe in Übereinstimmung mit dem Arbeitsamt mangels adäquaten Ersatzes zur Deportation erfaßte Juden reklamieren, hat die Gestapo diese zunächst vom Abtransport zurückzustellen und gemäß Speers Auftrag von November 1941 die Räumung der Wohnung in jedem Fall durchzusetzen.

Juli und August 1942

Speer läßt sich als Generalbauinspektor kontinuierlich aus seinem Hauptamt II über die Zahlen der geräumten und noch nicht an seine mietberechtigte Klientel (räumungspflichtige Mieter aus Abbruchbereichen der Neugestaltung, behördlich privilegierte Wohnungssuchende und Interessenten aus Regierung und Industrie) berichten. Die Auswertung des erhaltenen statistischen Materials aus Speers Behörde zeigt, daß zum 1. August 1942 in dem zur Einquartierung, als "Schachtelraum", vorgesehenen und durch Grundstücksübernahmen von Behörden, Verbänden und Konzernen zusammengeschrumpften Segment der Wohnungen im Hauseigentum von Juden rund zwei Drittel der etwa 48.000 noch nicht deportierten Berliner Juden, von denen etwa 3.000 Heimbewohner sind, den Raum einer Wohnung mit 16 anderen wohnungslosen Juden teilen müssen.

25. Juli 1942

Himmler trifft nach Rückkehr von seiner Inspektionsreise zum KZ Auschwitz am 17./18. Juli 1942 und anschließend in den Distrikt Lublin laut dessen 'Dienstkalender' Speer ein erstes Mal zu mehrstündiger Beratung unter Beteiligung Bormanns im Anschluß an ein Essen mit Hitler.

12. August 1942

Himmler trifft Speer zum zweiten Mal, diesmal nachdem tagszuvor sein Deportationsexperte Eichmann und sein Bau-Chef Kammler nach ihren jeweiligen Inspektionsreisen zum Rapport erschienen sind.

9. September 1942

Himmler telefoniert mittags mit Speer. Rücksprachebedarf besteht noch wegen der Fensterrahmenfabrikation in den KZ, der großen Rüstungsaufträge und wegen der Besprechung mit Pohl.

15. September 1942

Besprechung Speers unter Zuziehung seiner leitenden Mitarbeiter mit Pohl und Kammler. Mitteilung Speers über die Genehmigung der Vergrößerung des Barackenlagers Auschwitz im vollen Umfang und die Bereitstellung eines zusätzlichen Bauvolumens für Auschwitz in Höhe von 13,7 Mio RM. Auch die übrigen Zusagen Speers an die SS: einzelne Rüstungsfertigungen in KZ, darunter in Auschwitz für Krupp, Fertigung von Türen und Fensterrahmen und Bereitstellung von KZ-Gefangenen in SS-Baubrigaden, beides auf Anforderung Speers für die Sofortmaßnahmen zur Fliegerschädenbeseitigung in seinem Geschäftsbereich als GBBau, sichern Himmlers KZ die als kriegsentscheidend eingestufte Kontingentierung des KZ-Ausbaus und Verhindern den Abzug von privaten Baufirmen und deren Stamm- und Zwangsbelegschaften von den Baustellen der KZ-Bauleitungen.

20. bis 22. September 1942

Speer notiert nach Besprechungen Hitlers Einwilligung für die Deportation auch der bislang als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie eingesetzten Juden und für deren KZ-Sklavenarbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie auch auf Reichsgebiet. Zuerst werden die unmittelbar unter Himmlers Herrschaft in den KZ gefangenen Juden nach Auschwitz deportiert. Den letzten Räumauftrag Speers als Generalbauinspektor schließt die Gestapo in Berlin mit den Deportationen auch der jüdischen Zwangsarbeiter mit straßenweisen Razzien seit Ende November 1942 und der Fabrik-Aktion vom 27. Februar 1943 im März 1943 ab. Auch im Reichsgebiet werden die zwangsbeschäftigten Juden miterfaßt und nach Auschwitz deportiert.

25. September und 1. Oktober 1942

In Berlin und Auschwitz ist "Sonderprogramm Prof. Speer" und "zusätzliches Bauvolumen Reichsminister Prof. Speer" als vordringlichst durchzuführende Sonderaufgabe die Bezeichnung für den dauerhaften Ausbau des Lagers Auschwitz-Birkenau zum Sklavenarbeits- und Vernichtungslager.

28. Oktober 1942

Die SS-Zentralbauleitung Auschwitz hat das "Sonderprogramm Prof. Speer" nach Zuteilung der GBBau-Kennziffer VIII Up a2 für die formelle Erlangung der generellen Baugenehmigung und Kontingentierung durch Speer als GBBau berechnet und beschrieben als Bauvorhaben in Birkenau zur "Durchführung der Sonderbehandlung", der Kombination von Selektion der bei Ankunft in Auschwitz als arbeitsfähig Eingestuften zur KZ-Sklavenarbeit, der sofortigen Vernichtung aller anderen Deportierten, soweit nicht die SS-Mediziner einzelne für ihre verbrecherischen Menschenversuche selektieren, und der Verwertung des Raubguts und der Körper der Ermordeten zugunsten der Reichskasse.

2. Februar 1943

Aufgrund der Vorlage des SS-internen Prüfungsberichts zu demselben Bauvorhaben erteilt Speer als GBBau durch seinen "Baubevollmächtigten des Reichsministeriums Speer" in Breslau die Baufreigabe.