Die Fabrik-Aktion

Vor 60 Jahren: Albert Speers letzter Auftrag zur Deportation der Berliner Juden

Am 27. Februar 1943 brachte die Gestapo den letzten Räumauftrag zu Ende, den Albert Speer als Generalbauinspektor für Berlin im November 1941 erteilt hatte. In einer stadtweiten Razzia verhafteten Polizei- und SS-Kräfte seit dem Morgen dieses Samstags acht- bis neuntausend Berliner Juden in ihren Wohnungen, am Arbeitsplatz, bei Behördengängen und auf offener Straße. Die Formalitäten für den »bürokratischen Tod« – die Einziehung von Lebensmittelkarten, Arbeitspapieren, Ausweisen und Wohnungsschlüsseln und die Aktualisierung der Vermögenserklärungen zur Erleichterung des staatlichen Raubs – holte die Gestapo in den sechs Sammellagern nach, zu denen neben den Häusern der Jüdischen Gemeinde in der Lewetzowstraße, Gerlachstraße und Großen Hamburger Straße auch zwei Kasernen in Reinickendorf und Moabit und das Berliner Konzerthaus Clou in der Mauerstraße umfunktioniert wurden. Wer nach den Deportationsrichtlinien des Reichssicherheitshauptamts vom 20. Februar 1943 nicht deportiert werden sollte, wurde, einmal verhaftet, bis auf weiteres im bisherigen »Jüdischen Arbeitsamt« in der Rosenstraße festgesetzt. Binnen einer Woche, am 1., 2., 3., 4. und 6. März, fertigte die Gestapo Transporte nach Auschwitz mit annähernd siebentausend Berliner Deportierten ab.

Nicht nur in Berlin war der 27. Februar 1943 für die verbliebenen Juden das Ende ihrer Existenz in Deutschland: Mehrere tausend Juden wurden Ende Februar in größeren Städten konzentriert und von dort wie die Berliner Juden nach Auschwitz deportiert. Der Befehl zur »Entjudung des Reichsgebietes« hatte in der letzten Februarwoche die örtlichen Gestapostellen, kommunalen Behörden, Arbeitsämter und Betriebe erreicht. Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb bot vor den abschließenden Massendeportationen keinerlei Schutz mehr. Der Abtransport der Ende 1942 noch gezählten 20406 zwangsbeschäftigten Juden, davon 15100 in etwa 200 kriegswichtigen Betrieben in Berlin, war seit September 1942 beschlossene Sache. Anfang Dezember 1942 erfuhren Berliner Firmen von der Galgenfrist für ihre jüdischen Arbeiter: 31. März 1943. Kontinuierlich waren seit Oktober 1941 auch zwangsbeschäftigte Juden deportiert worden; in Berlin zu Tausenden, was anfangs auf den Einspruch von Betrieben, Arbeitsämtern und Rüstungsinspektionen der Wehrmacht stieß. Ihre Sorge galt der Beschaffung geeigneter Ersatzarbeitskräfte. Die Berliner Gestapo bemühte sich um einen Kompromiß, nahm auf Intervention vorläufige Rückstellungen vor und unterbreitete Anfang Februar 1942 Berliner Firmen den Plan, im Zuge der Wohnungsräumungen die noch nicht entbehrlichen Zwangsarbeiter in betriebliche Barackenlager umzuquartieren. Ergebnis des anfänglichen Konflikts war die Zusage des Reichssicherheitshauptamts im November 1941, Juden in kriegswichtiger Beschäftigung in jedem Einzelfall auf Verlangen der Betriebe und der Arbeitsämter zurückzustellen, was in den reichsweiten Deportationsrichtlinien vom 31. Januar 1942 seinen Niederschlag fand. Betriebe und Behörden gaben seither die einen zur Deportation »frei« und reklamierten andere im Interesse der Rüstungsfertigung.

»Schutz« vor Deportation war nie verläßlich und stand von Anfang an unter dem Vorbehalt des Endes der Zwangsbeschäftigung einheimischer Juden, nämlich sobald diese durch Zwangsarbeiter aus den Okkupationsgebieten ersetzt würden. Am 9. Februar 1942 zum Rüstungsminister aufgestiegen, machte Speer sich zum Herrscher über das Schicksal aller Juden, die als Rüstungsarbeiter der Deportation zu entkommen hofften. Speer forcierte die Zwangsrekrutierung von Ausländern, entwarf mehrfach Austauschszenarien und förderte den Ausbau von Auschwitz zur Drehscheibe seines europäischen Sklavenmarkts. Im Winter 1942/43 war der von Speer am 13. März 1942 offen angekündigte Zeitpunkt gekommen, zu dem er als Rüstungsminister, »sobald die Arbeitseinsatzlage es gestattet, die Juden in Rüstungsbetrieben durch andere Arbeitskräfte ersetzen und dafür die Juden zum Abtransport freigeben« werde.

Vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg kommentierte Speer die Lage der Anfang 1943 noch nicht deportierten Berliner Juden mit den Worten: »Diese Juden waren noch völlig frei, und ihre Familien waren noch in ihren Wohnungen.« Speer behauptete zu seiner Verteidigung als angeklagter Hauptkriegsverbrecher zudem, ihm wäre es 1942 – gegen Goebbels und Hitler – gelungen, die Berliner Juden in den Rüstungsbetrieben zu halten; »erst im März 1943« wäre »dieser Widerstand erfolglos gewesen«. Die Systematik der von Speer als Generalbauinspektor für den Berliner Hauptstadtbau initiierten Zwangsräumungen gegen Berliner Juden ab Januar und die der Massendeportationen ab Oktober 1941 dechiffriert diese Nachkriegslüge Speers.

Alle 23000 Wohnungen, die Juden in Berlin noch im Februar 1939 bewohnt oder an Juden vermietet hatten, brachte die Speersche Behörde seither in ihre alleinige Verfügung. Diese zwangsweise zu räumenden Wohnungen sollten an die ersatzberechtigten Mieter aus denjenigen Stadtvierteln übergeben werden, die Speers Hauptstadtplanung zum Abriß bestimmt hatte: darunter das zentrale Areal im Spreebogen und entlang der Nord-Süd-Achse zwischen Lehrter Bahnhof und Papestraße und für den innerstädtischen Reichsbahnausbau.

Bereits Mitte September 1938 hatte sich Speer entschieden, nachdem wegen der alle Ressourcen absorbierenden Aufrüstung im Berliner Wohnungsbau jeglicher adäquate Ersatz für den projektierten Abriß ausbleiben mußte, die »Ersatzwohnungsfrage« seines Hauptstadtbaus auf Kosten der Berliner Juden zu lösen. Bis Kriegsbeginn vermittelte seine Behörde die Wohnungen der nach dem Novemberpogrom geflüchteten Juden. Bedingung der im Mai 1940 fertig geplanten Wiederaufnahme der Räumungen und Abrißarbeiten war die Massendeportation der jüdischen Bevölkerung Berlins nach Kriegsende. Solange wollte Speer jedoch nicht warten. Im September 1940 besorgte er sich Hitlers Zustimmung zum Räumungsbeginn während des Kriegs.

Die Zwangsräumungen gegen Berliner Juden begannen Ende Januar 1941. Der Verbleib der exmittierten Juden in Berlin war eine behördliche Interimslösung: Im Januar 1941 weigerte sich Hitler, der ihm von Heydrich vorgeschlagenen Deportation von Berliner Juden zuzustimmen. Daraufhin spannte Speer auch Goebbels ein. Am 20. März 1941 beauftragten die Vertreter Speers und Goebbels’ Eichmann mit der Deportationsplanung, der Hitler im September 1941 zustimmte. Seit September 1940 hatte Speer auf Massendeportationen während des Kriegs gedrängt und sie binnen Jahresfrist durchgesetzt. Erst in seiner Funktion als Rüstungsminister akkumulierte Speer ab Februar 1942 genügend Macht, um auch die Deportation der zwangsbeschäftigten Berliner Juden zu erzwingen.

Die Reihenfolge, in der ab August 1941 Juden zur Deportation aus Berlin erfaßt wurden, bestimmte der Generalbauinspektor durch behördliche, auch nach dem antijüdischen Mietgesetz unzulässige, Wohnungskündigungen. Ab Januar 1941 verurteilte Speers Behörde Berliner Juden zur Wohnungslosigkeit: Mindestens 2200 Wohnungen, die Speers Klientel passend fand, verloren Berliner Juden in der »I. Aktion« der Wohnungsräumungen zwischen Januar 1941 und November 1942. Die betroffenen jüdischen Hauptmieter und Mitbewohner mußten sich auf Nachricht der eigens für die Speerschen Zwangsräumungen 1939 errichteten Wohnungsberatungsstelle der Jüdischen Kultusvereinigung Quartier bei Freunden oder Verwandten suchen, wollten sie nicht zwangsweise bei anderen Juden einquartiert werden.

Beschleunigte Räumungen der Abrißviertel durch ein optimiertes Wohnungsangebot bezweckte Speers Behörde im Mai 1941 mit der »II. Aktion«, ihrer ersten Großaktion, die auf einen Schlag Juden aus 1000 Wohnungen exmittierte. Im August 1941 bestimmte Speers Behörde 5000 Wohnungen von Juden zur Räumung. Diesmal übergab sie die als Karteiauszüge aufgelisteten Kündigungsanordnungen nicht der Wohnungsberatungsstelle der Jüdischen Kultusvereinigung, sondern der Gestapo. Durch diese »III. Aktion«, ihrer zweiten Großaktion, lieferte Speers Behörde der Gestapo weit mehr als zehntausend Berliner Juden zur Deportation aus. Die Gestapo stellte anhand des polizeilichen Melderegisters deren Personalien fest und verfügte erstmals am 3. Oktober 1941 en bloc mehrere tausend Vermögenseinziehungen. Danach erst alarmierte das Schreiben der Jüdischen Kultusvereinigung die zur Deportation erfaßten Berliner Juden: Die Wohnung war behördlich zur Räumung bestimmt und die Vermögenserklärung abzugeben.

Das Reichssicherheitshauptamt hatte nach dem ersten Schub von vier Berliner Deportationen ab Mitte Oktober 1941 nach Lodz den zweiten Deportationsschub nach Minsk, Kowno und Riga im November 1941 gerade zur Hälfte ausgeführt, als Speer ausweislich der zeitgenössischen Chronik seiner Dienststellen seine dritte Großaktion der Wohnungsräumungen in Auftrag gab. Es war zugleich seine letzte, und dieser galt der in Akten und Korrespondenzen von Reichsbehörden mehrfach erwähnte sogenannte Deportationsstop von Januar 1942. Derweil fertigte die Gestapo im März und April 1942 noch drei Deportationen von Berliner Juden in den Distrikt Lublin und ins Warschauer Ghetto ab, deren Opfer durch Speers zweite Großaktion zur Deportation erfaßt worden waren.

Die Deportationen der dritten Großaktion, Osttransporte und sogenannte Alterstransporte nach Theresienstadt, begannen im Juni 1942, nachdem Hitler am 29. Mai aufgrund von Speers erstem Austauschplan der Deportation aller Juden zugestimmt hatte: Ausländische Zwangsarbeiter sollten die jüdischen Rüstungsarbeiter ersetzen. Der Austausch war wegen der um eine Million Einsatzkräfte konkurrierenden Personalanforderungen von Industrie und Wehrmacht illusorisch. Die Berliner Gestapo stellte weiterhin die durch die Wohnungskündigungen zur Deportation erfaßten, aber für die Rüstungsindustrie reklamierten jüdischen Zwangsarbeiter vorerst von der Deportation zurück.

Speers zweiten Austauschplan von Mitte September 1942, bis zu 50000 der nach Auschwitz deportierten ausländischen Juden der Industrie und der SS als Sklavenarbeiter anzudienen, lehnte Hitler ab und billigte die Fortsetzung der Massendeportationen »unter allen Umständen«.

Die Fabrik-Aktion am 27. Februar 1943 war die letzte und gefährlichste Razzia zum Abschluß der dritten Großaktion Speers. Straßenweise Razzien waren der Fabrik-Aktion vor jeder der acht Massendeportationen vom 29. November 1942 bis zum 26. Februar 1943 vorausgegangen, wobei, so die zeitgenössische Erinnerung, »verschiedene Fehlgriffe vorkamen, die zu wütenden Vorstellungen von Nichtjuden Veranlassung gaben«. Bereits bei diesen »Straßenaktionen« wurden wie bei der Fabrik-Aktion Berliner Juden festgenommen, deren Deportation nach den reichsweiten Richtlinien noch aufgeschoben war. Denn die Speerschen Wohnungskarteien umfaßten seit Februar 1939 auch die Wohnungen von Juden, deren nicht-jüdische Ehefrau den Mietvertrag geschlossen hatte. Und zur Zwangsarbeit wurden Juden ab 1938 herangezogen, egal mit wem sie verheiratet waren.

Für die Freilassung der zweitausend in der Berliner Rosenstraße internierten Juden protestierten zu Hunderten eine Woche lang, Tag für Tag, deren nichtjüdische Angehörige. Sie fanden zum öffentlichen Protest, und es blieb ihnen nur der öffentliche Protest, weil die Gestapo im November 1942 unter dem Kommando des Wiener Menschenjägers Alois Brunner das bis dahin in Berlin praktizierte langwierige bürokratische Erfassungsverfahren gegen Interventionen abschottete. Seither war die Kündigung der Wohnung nicht mehr der Vorbote der drohenden Deportation; die polizeiliche Verhaftung, der unvermittelte Terror, erlaubten kein Entrinnen. Nach Abfertigung der Massendeportationen in der ersten Märzwoche 1943 wurden aus der Rosenstraße die meisten Juden freigelassen und wieder zur Zwangsarbeit rekrutiert. Etwa 200 von ihnen hatte die Gestapo jüdischen Einrichtungen zugewiesen und deportierte 450 bisherige Angestellte mit deren Angehörigen am 12. und 17. März 1943.

Infolge der Fabrik-Aktion wurden im März 1943 mehr als neuntausend Berliner Juden deportiert, 1159 zunächst nach Theresienstadt, annähernd 8000 direkt nach Auschwitz. Der couragierte Frauenprotest in der Rosenstraße hatte die Freilassung aller zweitausend dort Internierten bewirkt. Wahrscheinlich ebenso viele Berliner Juden entkamen am 27. Februar 1943 der Verhaftung und retteten sich vor der Deportation kraft ihres eigenen Entschlusses, in Berlin – wohnungslos und arbeitslos, ohne legale Papiere und auf die Unterstützung von Nichtjuden angewiesen – unterzutauchen.

Erschienen in: Junge Welt, 1.3.2003 Link: http://www.jungewelt.de/2003/03-01/030.php[1]

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  1. http://www.jungewelt.de/2003/03-01/030.php