Albert Speer und die Deportation der Berliner Juden

Von Irene Runge 02.04.2003

Die Historikerin Dr. Susanne Willems referierte atemberaubend Speers Aktivitäten bis zur »Fabrik-Aktion«. Nach 1945 gab er sich unschuldig, doch Willems widerlegt die Lebenslüge mit Fakten. Am 27. Februar 1943 vollendete die Gestapo Speers letzten Räumauftrag vom November 1941 als Berlins Generalbauinspektor.Anfang Februar 1942 hatte die Gestapo Berliner Firmen vorgeschlagen, noch unentbehrliche Zwangsarbeiter durch Wohnungsräumungen in betriebliche Barackenlager umzuquartieren. Dem ging die Zusage des Reichssicherheitshauptamts vom November 1941 voraus, Juden in kriegswichtiger Beschäftigung auf Verlangen der Betriebe und Arbeitsämter zurückzustellen, was in reichsweiten Deportationsrichtlinien vom 31. Januar 1942 mündete. Betriebe und Behörden entschieden damit über Deportation oder Rückstellung im Interesse der Rüstung. Am 9. Februar 1942 war Speer Rüstungsminister und »Herrscher über das Schicksal aller Juden, die als Rüstungsarbeiter der Deportation zu entkommen hofften«. Er forcierte die Zwangsrekrutierung von Ausländern, entwarf Austauschszenarien und »förderte den Ausbau von Auschwitz zur Drehscheibe seines europäischen Sklavenmarkts«. Durch Selektion der arbeitsfähigen und sofortige Vernichtung arbeitsunfähiger Deportierter - so die Überlegung Speers - würde die deutsche Kriegsproduktion statistisch keinen Rüstungsarbeiter verlieren. Im Winter 1942/43 sollten, »sobald die Arbeitseinsatzlage es gestattet«, Juden in Rüstungsbetrieben durch andere Arbeitskräfte ersetzt und abtransportiert werden. Seine Behörde requirierte 23 000 Berliner Wohnungen, die im Februar 1939 von Juden noch bewohnt oder vermietet waren, die spätestens im ersten Nachkriegsjahr an ersatzberechtigte Abriss-Mieter gehen sollten. Bis Kriegsbeginn vermittelte seine Behörde auch Wohnungen von nach dem Novemberpogrom Geflüchteten. Hauptstadtplanung und Abriss betrafen das Areal für staatliche Repräsentationsbauten im Spreebogen,fürBehörden, Verbände und Konzerne entlang der Nord-Süd-Achse zwischen Lehrter Bahnhof und Papestraße und Häuserzeilen für den Reichsbahnausbau. Bereits Mitte September 1938 hatte Speer, da Ersatz für den Abriss nicht absehbar war, entschieden, die »Ersatzwohnungsfrage« seines Hauptstadtbaus auf jüdische Kosten zu lösen, im Mai 1940 waren die Planungen beschlossen. Voraussetzung: die Massendeportation der jüdischen Bevölkerung nach Kriegsende. Speer aber verschaffte sich noch im September 1940 Hitlers Zustimmung zum Räumungsbeginn ab Ende Januar 1941. Die Reihenfolge der Deportationen ab August 1941 bestimmte seine Behörde: »Aus der nach Bezirk, Straßenname und Hausnummer geordneten Grundkartei wurden nach Wohnungsgröße und Mietpreis sortiert Karteiauszüge gefertigt. Jüdische Hauptmieter und Mitbewohner mussten sich auf Nachricht der eigens für die Speerschen Zwangsräumungen 1939 errichteten Wohnungsberatungsstelle derJüdischen Kultusvereinigung
Quartier bei Freunden oder Verwandten suchen, wollten sie nicht zwangsweise bei anderen Juden einquartiert werden«.
Mit dieser I. Aktion zwischen Januar 1941 und November 1942 (2 200 Wohnungen) wurden Tausende Juden wohnungslos. Beschleunigte Räumungen der Abrissviertel und Wohnungsangebote bezweckte die Behörde im Mai 1941 mit der II. Aktion (erste Großaktion). Juden wurden aus 1000 Wohnungen exmittiert, um diese Nachmietern zu übergeben. Im August 1941 waren es weitere 5000 Wohnungen. Durch die III. Aktion waren über 10 000 Berliner Juden zur Deportation verurteilt. Personalien wurden von der Gestapo nach dem Melderegister erfasst, zu Deportierende erhielten die behördliche Wohnungskündigung durch die jüdische Wohnungsberatungsstelle, die auch Vermögenserklärungen zu verlangen hatte. Das Reichssicherheitshauptamt führte nach den ersten vier Berliner Deportationen ab Mitte Oktober 1941 nach Lodz den zweiten Deportations-schub nach Minsk,Kowno und Riga im November 1941 gerade zur Hälfte aus, als Speer seine dritte Großaktion der Wohnungsräumungen in Auftrag gab, so Susanne Willems. Es wurde seine letzte. Ihr galt ein in Akten und Korrespondenzen von Reichsbehörden erwähnter Deportationsstop von Januar 1942, doch im März und April 1942 befahl die Gestapo drei weitere in den Distrikt Lublin und ins Warschauer Ghetto. Die Opfer waren durch die zweite Großaktion erfasst. Die Deportationen der dritten Großaktion begannen im Juni 1942. Im August 1942 hatten die Wohnungsräumungen einschließlich etwa 3 500 Sonderräumungen dazu geführt, dass sich - durchschnittlich und ungeachtet der Wohnungsgrößen - zwei von drei der noch nicht aus Berlin deportierten Juden mit 16 oder 17 anderen eine Wohnung teilen mussten. Die »Fabrik-Aktion« war die letzte und gefährlichste Razzia zum Abschluss der dritten Großaktion Speers. Straßenweise Razzien waren jeder der acht Massendeportationen vom 29. November 1942 bis zum 26. Februar 1943 vorausgegangen. Bei der Abschluss-Razzia am 27. Februar 1943 wurden die dann in der Rosenstraße internierten Juden mitverhaftet, weil in den Speerschen Karteien seit Februar 1939 auch Wohnungen von Juden vermerkt waren, wo nicht-jüdische Ehefrauen den Mietvertrag geschlossen hatten. Zur Zwangsarbeit wurden Juden ab 1938 herangezogen, egal mit wem sie verheiratet oder wessen Kinder sie waren. Der polizeiliche Erfolg der Massenverhaftungen war von der Geheimhaltung der unmittelbar bevorstehenden Massendeportationen abhängig. Im November 1942 schottete die Gestapo unter dem Kommando des Wiener Menschenjägers Alois Brunner das bis dahin in Berlin praktizierte langwierige bürokratische Erfassungsverfahren gegen Interventionen ab. Seither gab es keinen Hinweis auf drohende Deportation durch Wohnungskündigung. Nach Abfertigung der Massendeportationen in der ersten Märzwoche 1943 nutzte die Gestapo die Inhaftierung der nicht zu deportierenden Juden, um das Personal der jüdischen Einrichtungen abermals zu reduzieren, wies diesen etwa 200 Internierte zu und deportierte 450 bisherige Angestellte mit deren Angehörigen und andere noch in Berlin aufgegriffene Juden am 12. und 17. März 1943. In der Folge des 27. Februar 1943 wurden über neuntausend Berliner Juden deportiert. Der couragierte Frauenprotest in der Rosenstraße bewirkte die Freilassung aller zweitausend dort Internierten. Wahrscheinlich ebensoviele Berliner Juden entkamen am 27. Februar 1943 durch »Untertauchen«,waren wohnungs- und arbeitslos, ohne legale Papiere und auf Unterstützung von Nichtjuden angewiesen. Zeitzeugen brachten im Anschluss an den Vortrag ihre Erinnerungen ein. Interessenten ist das Buch von Susanne Willems »Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarktpolitik für den Berliner Hauptstadtbau«, Edition Hentrich 2002, zu empfehlen.